Mit sechs Jahren schaut sie wieder einmal in den Spiegel. Betrachtet sich, ihren Körper. Und denkt: Das da bin ich nicht. Da stimmt doch etwas nicht mit mir. Da läuft was falsch. Xenia heißt sie da noch nicht, ist auch noch keine Sie, sondern rein körperlich ein Er. Doch in diesem Körper steckt die Seele, das Bewusstsein, das Wesen eines Mädchens, einer Frau. Nur: Mit wem soll sie darüber sprechen, mitten in den 1960er Jahren? Heimlich zieht sie die Schuhe ihrer Mutter an und fühlt sich wohl darin. Beobachtet, wie sich in der Pubertät ihre Klassenkameradinnen auch optisch zu Frauen entwickeln, während sich bei ihr selbst männliche Züge zeigen. „Also stehst du immer noch morgens im Bad, und aus dem Spiegel schaut dich jemand an, der du nicht bist“, erzählt Xenia heute, mehr als 50 Jahre später. „Damals habe ich mich geschämt, dachte, ich bin krank. Und was machst du? Du baust tagsüber eine Mauer um dich herum, lässt sogar den Macho raushängen, um eine Art Männlichkeit zu demonstrieren, und nachts weinst du heimlich in dein Kissen.“
Xenia ist eine Transfrau, geboren im Körper eines Mannes. Doch bis sie das nicht nur sich selbst, sondern auch ihrem Umfeld eingestehen kann, dauert es bis ins Jahr 2004. Da ist sie schon fast 20 Jahre mit ihrer Frau Ute verheiratet, hat einen Sohn im Teenageralter. Lebt ein normales Familienleben. Vordergründig. Denn was in ihr drin passiert, verbirgt sie vor Familie, Freunden, Arbeitskollegen. Es geht irgendwie, über die Jahre. Als das Internet bald ganz neue Recherchemöglichkeiten eröffnet, liest Xenia Berichte zum Thema Transgender. Was bedeutet Transidentität, was Transsexualität? Bei ihr selbst geht es nicht um die sexuelle Neigung, denn sie liebte und liebt Frauen, sondern allein um die Identität. Und wie geht es anderen Menschen damit? Was sagt die Medizin dazu? „Ich habe einen Bericht nach dem anderen gelesen und gedacht: Moment mal, das bin ja ich. Und ich bin nicht alleine. Und krank schon einmal gar nicht.“
Sie setzt alles auf eine Karte
Gleichwohl nimmt der innere Konflikt noch einmal zu, denn plötzlich zeigt sich da ein Weg, die eigene Situation zu verändern, das Anderssein konsequent zuzulassen, es zu leben. „Zugleich hatte ich nach wie vor Schuldgefühle“, erinnert sie sich zurück. Irgendwann leidet sie so sehr, dass sie Selbstmordgedanken bekommt.
„Wir haben die ganze Nacht geredet, zusammen geweint, weiter geredet.“
Und sich endlich offenbart: „Ich setzte einfach alles auf eine Karte. Es war ein Abend im Jahr 2004. Ich erzählte meiner Frau Ute, was mit mir los ist. Dass ich eine Frau bin, eine lesbische Frau. Sie war geschockt, natürlich. Wir haben die ganze Nacht geredet, zusammen geweint, weiter geredet.“ Das große Glück in dieser Zeit hatte Xenia nicht absehen können: Ihre Frau blieb bei ihr. Nicht nur das, gemeinsam gingen sie auch zu einer Transgender-Selbsthilfegruppe. Die indes erwies sich als große Enttäuschung:
„Da suggerierte man meiner Frau quasi, als Angehörige habe sie jetzt alles zu akzeptieren, was sich nun verändere. Und man fragte mich schon, ob ich denn einen Termin für die Geschlechtsangleichung hätte und so weiter. Und wir dachten nur: Halt, Stopp, so weit sind wir doch noch gar nicht.“
Gemeinsam veranstalteten später beide eigene Treffen, gründeten eine Selbsthilfegruppe und einen Verein, sind darin heute noch aktiv. Um Menschen, denen es so geht wie ihnen, wertschätzend, empathisch und auf Augenhöhe zu helfen. Nicht mit Vorschriften. Schon gar nicht mit „Du musst“. Sondern jede_r mit ihrem_seinem individuellen Weg.
Das Paar nahm sich Zeit. Xenias Frau Ute traf sich mit anderen Angehörigen, tauschte sich aus, reflektierte. „Sie hat bald gemerkt, dass mein Outing für unsere Beziehung sogar einen Mehrwert gebracht hat. Weil ich viele Dinge, auch Charaktereigenschaften, die ich ja jahrelang unterdrückt hatte, plötzlich zulassen konnte. Dieses Outing war so, als wenn man bei einem Schnellkochtopf das Ventil aufdreht – es konnte einfach so viel raus aus meinem Inneren.“
Das gesamte nähere Umfeld der Familie reagierte positiv, weil es spürte, wie glücklich das Paar war, wie viel Glück auch Xenia selbst ausstrahlte. Der gemeinsame Sohn, heute 31 Jahre alt sagte, er brauchte Zeit, um sich mit dieser so neuen Situation zu arrangieren. Xenia ließ sie ihm. Er sagt heute noch Papa zu ihr, sei‘s drum. „Ich bin natürlich seine biologische Erzeugerin. Aber ich bin eine Frau“, sagt sie.
Ein Herz-Kuchen von den Kollegen
Bis sie als solche auch zur Arbeit gehen konnte, vergingen indes einige weitere Jahre. Privat eine Frau, morgens im Büro ein Mann – so zog sie das bis ins Jahr 2011 durch. Bis es nicht mehr ging. „Ich habe mir damals zunächst professionelle Hilfe eines Therapeuten geholt, der nach wenigen Sitzungen die Diagnose der Transidentität stellte. So bekam ich erstmals Hormone verschrieben.“ Seitdem nimmt Xenia Östrogene. Die zeigten schon bald ihre Wirkung. Der Körper veränderte sich, die Körperbehaarung ging zurück, das Brustwachstum begann, die Gesichtszüge wurden weicher. „Und dann kam der Tag, an dem ich mich auch in der Firma outen musste.“ Gemeinsam mit ihrer Frau verfasst sie eine Mail an die gesamte Belegschaft von rund 150 Mitarbeitern, sie sprach mit dem Betriebsrat, dann mit der Geschäftsführung. Sie ging als Frau zur Arbeit und war natürlich nervös, aufgeregt, unsicher, was jetzt wohl passieren wird. Und sie machte wieder eine Erfahrung, mit der sie nicht gerechnet hatte: