Der Wandel in der Klassifikation von Transidentität von einer psychischen Störung hin zu einem Gesundheitszustand ist ein bedeutender Schritt in der Anerkennung und dem Verständnis von Geschlechtsidentität. Die Umstellung von ICD-10 auf ICD-11 reflektiert ein wachsendes Bewusstsein für die Komplexität der Geschlechtsidentität und die Differenzierung zwischen biologischen, psychologischen und sozialen Aspekten.
Die Klassifizierung als „Geschlechtsinkongruenz“ im ICD-11 signalisiert eine Entpathologisierung von Transidentität und erkennt an, dass Personen, die sich nicht mit dem bei der Geburt zugewiesenen Geschlecht identifizieren, keine psychische Störung haben, sondern einfach in ihrer Geschlechtsidentität von der gesellschaftlichen Norm abweichen. Diese Veränderung kann weitreichende positive Auswirkungen auf die Wahrnehmung und Behandlung von Trans*-Personen haben. Sie unterstützt nicht nur die medizinische Gemeinschaft dabei, sensibler auf die Bedürfnisse von Trans*-Personen einzugehen, sondern könnte auch zur Bekämpfung von Stigmatisierung und Diskriminierung beitragen.
Dennoch bleibt die Implementierung dieser neuen Klassifikation in der medizinischen Praxis und die gesellschaftliche Akzeptanz von Transidentität eine Herausforderung. Auch wenn die neue Klassifikation eine Fortschritt darstellt, sind viele Trans*-Personen nach wie vor mit Vorurteilen, Diskriminierung und unzureichendem Zugang zu geeigneten medizinischen Dienstleistungen konfrontiert.
Die Diskussion über Geschlechtsidentität und deren Behandlung bleibt wichtig, um sicherzustellen, dass medizinische Fachkräfte angemessen geschult werden, die Bedürfnisse von Trans*-Personen verstehen und respektieren, und dass politische Maßnahmen ergriffen werden, um die Rechte und das Wohlbefinden aller Geschlechtsidentitäten zu schützen. Es ist essentiell, dass die gesellschaftliche Diskussion über Geschlechtsidentität von wissenschaftlicher Evidenz, Respekt und einer Anerkennung menschlicher Vielfalt geprägt ist.
Geschlechtsinkongruenz: Geschlechtsinkongruenz ist die fehlende Übereinstimmung zwischen dem Zuweisungsgeschlecht und der Geschlechtsidentität.
Geschlechtsdysphorie: Geschlechtsdysphorie ist das Leiden an der Inkongruenz zwischen den körperlichen Geschlechtsmerkmalen und der Geschlechtsidentität.
HA60 - Geschlechtsinkongruenz bei Heranwachsenden und erwachsenen Personen:
Die geschlechtsspezifische Inkongruenz im Jugend- und Erwachsenenalter ist gekennzeichnet durch eine deutliche und anhaltende Inkongruenz zwischen dem erlebten Geschlecht einer Person und dem zugewiesenen Geschlecht, was sich in mindestens zwei der folgenden Merkmale manifestiert:
1) starke Abneigung oder Unbehagen gegenüber dem primären oder sekundären Geschlecht Merkmale (bei Jugendlichen antizipierte sekundäre Geschlechtsmerkmale) aufgrund ihrer Inkongruenz mit dem erlebten Geschlecht
2) ein starker Wunsch, einige oder alle primären und/oder sekundären Geschlechtsmerkmale (bei Jugendlichen antizipierte sekundäre Geschlechtsmerkmale) loszuwerden, da sie nicht mit dem erfahrenen Geschlecht übereinstimmen
3) ein starker Wunsch, die primären und/oder sekundären Geschlechtsmerkmale des erfahrenen Geschlechts zu haben. Das Individuum verspürt ein starkes Verlangen, als Person des erfahrenen Geschlechts behandelt zu werden (zu leben und akzeptiert zu werden). Die erlebte Geschlechtsinkongruenz muss seit mindestens mehreren Monaten ununterbrochen vorhanden sein. Die Diagnose kann nicht vor Beginn der Pubertät gestellt werden. Geschlechtsspezifisches Verhalten und Präferenzen allein sind keine Grundlage für die Zuordnung der Diagnose.
HA61 - Geschlechtsinkongruenz bei Kindern vor der Pubertät:
Die Geschlechtsinkongruenz der Kindheit ist gekennzeichnet durch eine deutliche Inkongruenz zwischen dem erlebten/ausgedrückten Geschlecht einer Person und dem zugeordneten Geschlecht bei präpubertären Kindern. Es beinhaltet einen starken Wunsch, ein anderes Geschlecht als das zugewiesene Geschlecht zu haben; eine starke Abneigung des Kindes gegenüber seiner sexuellen Anatomie oder erwarteten sekundären Geschlechtsmerkmalen und/oder ein starkes Verlangen nach den primären und/oder erwarteten sekundären Geschlechtsmerkmalen, die dem erfahrenen Geschlecht entsprechen; und Fantasie- oder Fantasiespiele, Spielzeug, Spiele oder Aktivitäten und Spielkameraden, die eher für das erfahrene Geschlecht als für das zugewiesene Geschlecht typisch sind. Die Inkongruenz muss etwa 2 Jahre andauern. Geschlechtsspezifisches Verhalten und Präferenzen allein sind keine Grundlage für die Zuordnung der Diagnose.
HA6Z - Geschlechtsinkongruenz, nicht näher bezeichnet:
HA8Y - Andere spezifische Bedingungen im Zusammenhang mit der sexuellen Gesundheit:
HA8Z - Bedingungen im Zusammenhang mit der sexuellen Gesundheit, nicht näher bezeichnet:
Die verschiedenen Ebenen des Geschlechts
- Die Ebene der Geschlechtschromosomen: 46,XX und 46,XY; genetisches Geschlecht
- Die Ebene der Keimdrüsen: Eierstöcke und Hoden; gonadales Geschlecht
- Die Ebene der Geschlechtshormone: Östrogene, Progesteron, Testosteron etc; hormonelles Geschlecht
- Die Ebene der anatomischen primären und sekundären Geschlechtsunterschiede: Innere und äußere Geschlechtsorgane, sekundäre Geschlechtsmerkmale; körperliches Geschlecht
- Die Ebene der zerebralen Geschlechtsunterschiede: Geschlechtsdifferente Hirnstrukturen, unterschiedliche Einflüsse durch die Geschlechtshormone im Gehirn; zerebrales Geschlecht
- Die Ebene des psychischen Geschlechts: Geschlechtszugehörigkeitsempfinden, Geschlechtsidentitätsgefühl
A. Eine seit mindestens sechs Monaten bestehende ausgeprägte Diskrepanz zwischen Gender und Zuweisungsgeschlecht, wobei sechs Einzelkriterien angeführt werden, von denen mindestens zwei erfüllt sein müssen, sowie
1. ausgeprägte Diskrepanz zwischen Gender und den primären und/oder sekundären Geschlechtsmerkmalen (oder, bei Jugendlichen, den erwarteten sekundären Geschlechtsmerkmalen).
2. Ausgeprägtes Verlangen, die eigenen primären und/oder sekundären Geschlechtsmerkmale loszuwerden (oder, bei Jugendlichen, das Verlangen, die Entwicklung der erwarteten sekundären Geschlechtsmerkmale zu verhindern).
3. Ausgeprägtes Verlangen nach den primären und/oder sekundären Geschlechtsmerkmalen des anderen Geschlechts.
4. Ausgeprägtes Verlangen, dem anderen Geschlecht anzugehören (oder einem alternativen Gender, das sich vom Zuweisungsgeschlecht unterscheidet).
5. Ausgeprägtes Verlangen danach, wie das andere Geschlecht behandelt zu werden (oder wie ein alternatives Gender, das sich vom Zuweisungsgeschlecht unterscheidet).
6. Ausgeprägte Überzeugung, die typischen Gefühle und Reaktionsweisen des anderen Geschlechts aufzuweisen (oder die eines alternativen Gender, das sich vom Zuweisungsgeschlecht unterscheidet).
B. Ein klinisch relevantes Leiden oder Beeinträchtigungen in sozialen, schulischen oder anderen wichtigen Funktionsbereichen.
Das DSM-5® ist ein weltweit anerkanntes und etabliertes Klassifikationssystem für psychische Störungen. Das Manual bietet ausführliche Beschreibungen für alle offiziellen DSM-5-Störungsbilder sowie Informationen zu in Entwicklung befindlichen Instrumenten und Modellen.
https://www.bifg.de/media/dl/ePaper/bifg-epaper-icd-11.pdf
https://www.researchgate.net/publication/325570358_ICD-11_-_Anpassung_der_ICD_an_das_21_Jahrhundert